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Christ sein im 21. Jahrhundert - das Monster in uns erkennen


Bei einem Campingausflug mit den Familien, sitzen vier Freunde im Wald am Lagerfeuer. Alle anderen schlafen schon. Der Himmel ist klar, und einer der Freunde sieht lange in die Glut, ehe er spricht.

Theist: Ich habe lange gebraucht, um zu begreifen, dass das Christsein nichts mit Moral zu tun hat. Nicht zuerst. Es geht nicht um Gutsein. Nicht um Regeln. Es geht darum, sich einem Abgrund zu stellen – dem Abgrund, den jeder von uns in sich trägt. Denn da ist etwas in uns... ein Hunger. Nicht nur nach Nähe, nicht nur nach Liebe. Sondern auch nach Zerstörung. Nach Gewalt. Nach Blut. Und ich glaube, Jesus Christus hat uns eingeladen, diesen Hunger – nicht zu verdrängen, nicht zu leugnen – sondern zu erkennen, uns dadurch zu erkennen und dann den Hunger an ihm zu stillen. "Dies ist mein Leib. Dies ist mein Blut." Er hat sich uns gegeben, nicht weil wir gut sind, sondern weil er wusste, wie sehr wir es nicht sind. Weil er wusste, dass wir sonst einander verschlingen und zerstören.

Atheist: Du meinst das nicht metaphorisch, oder?

Theist: Nein. Nicht nur. Schau auf unsere Geschichte. Schau auf die Kriege. Die Folter. Die Gier. Schau in den Alltag – in unsere Familien, unsere Beziehungen. Wie schnell wir lügen. Wie schnell wir verletzen. Wie leicht wir andere Menschen benutzen. Wie wir uns selbst hassen. Christ zu sein heißt: Ich erkenne das an. Und ich erkenne an, dass ich es nicht selbst lösen kann. Und ich erkenne: Es gibt einen, der sich hat zerreißen lassen, damit ich nicht zerreißen muss bzw. der mich und uns so sehr liebte, dass er sagte, zerreiße mich, immer wieder, damit du die anderen nicht zerreißen musst.

Forscher: Das klingt erschütternd... und gleichzeitig fast biologisch nachvollziehbar. Es gibt Studien, die zeigen, dass wir Aggression nicht nur erlernt haben – sie steckt tief in unserer DNA. Im Stammhirn, in den epigenetischen Prägungen. Gewalt ist Teil unserer Geschichte, Teil unseres Überlebens. Und: sie wird weitergegeben. Trauma, das nicht verarbeitet wird, wird vererbt. Nicht nur psychisch – physisch. Die Wut der Vorfahren lebt weiter im Körper der Kinder.

Philosoph: Und trotzdem lieben wir. Trotzdem hoffen wir. Vielleicht ist das der eigentliche Skandal: Nicht, dass der Mensch böse ist – das ist fast selbstverständlich. Der Skandal ist, dass der Mensch auch gut sein kann. Großzügig. Bereit, Opfer zu erbringen. Fähig zu vergeben, fähig zu bereuen. Und die Frage ist: Woher kommt das? Wie kann das sein?

Theist: Weil es ein Angebot gibt. Einen anderen Weg. Weil Jesus nicht kam, um die Guten zu retten – sondern die Kaputten. Uns. Er lud uns ein, unsere Mordlust – ich sage das mit aller Ernsthaftigkeit – zu erkennen und an ihm auszulassen. Und er tat das nicht aus Masochismus. Sondern um sie zu transformieren. Das Kreuz ist kein Symbol der Schwäche. Es ist ein Altar, auf dem der Hass der Welt entwaffnet wurde.

Atheist: Du forderst viel. Ich sehe das Christentum meist nur als Ethik. Barmherzigkeit, Vergebung, Nächstenliebe – diese Dinge sind wichtig. Aber du redest von etwas Tieferem. Von einer Art... innerer Umwandlung. Ich sehe natürlich den Todesgedanken ein, dass wir Tod in uns haben im Sinne unserer Sterblichkeit, auch im Sinne unseres Potenzials, Tod zuzufügen. Aber es fällt mir schwer, uns dadurch gleich als Mörder zu erfassen.

Theist: Ethisch gut zu sein reicht nicht. Es reicht nicht, höflich zu sein, Steuern zu zahlen und vegan zu leben. Es ist eine tiefe Aggression in uns, nicht nur das Potenzial zu töten. Es ist etwas in uns, das töten will. Was machst du mit dem? Was machst du mit dem Neid? Mit der Gier? Mit dem Wunsch, alles zu kontrollieren – oder alle zu unterwerfen? Wir haben scharfe Zähne, zwei Augen vorne, wir sind biologisch gesehen Prädatoren ähnlich, aber wovon ich spreche, ist mehr. Eine Blutrunst. Die Moderne lehrt uns Selbstverwirklichung. Christus lehrt uns Selbsthingabe. Erkenntnis dessen, was wir sind, anstatt des Lebens in einer imaginären positiven Identität.

Forscher: Vielleicht ist beides notwendig. Die Neurowissenschaft zeigt: Unser Gehirn ist plastisch. Es kann sich verändern – aber nur durch Übung, durch Beziehung, durch konkrete Erfahrungen. Ein lebendiger Glaube kann ein solches Erfahrungsfeld sein. Was du beschreibst, ist eine radikale Form der Ko-Regulation: Du bringst dein Dunkel in ein Licht, das dich nicht verurteilt. Und dieses Licht ist für dich Christus. Es gibt auch diesen genialen Gedanken, dass Worte existieren, damit sie sterben können, an unserer Stelle.

Philosoph: Das Christentum – so verstanden – ist kein System. Es ist eine Einladung. Und ein Spiegel. Vielleicht geht es weniger darum, was ich glaube. Sondern darum, wem ich mich ausliefere. Aber das ist wohl das Risiko, welches wir in einer jeden Beziehung eingehen.

Atheist: Ja, wir müssen uns schützen können.

Theist: Uns kennenlernen müssen wir, in der tiefsten Tiefe. Wenn wir das getan haben, können wir anfangen, uns mit Hilfe von Christus zu lieben, als Monster, die wir sind, ohne Verschönerung. Danach können wir unsere Nächsten lieben, wie wir uns geliebt haben.

Forscher: Ich finde es interessant, wenn Du sagst, ansonsten lieben wir nur eine positive Vorstellung von uns, die wir entwickeln, und nicht das, was wir wirklich sind? Es würde dies auch in moderne psychologische Ansätze passen, dass wir die Schattenanteile unserer Seele, das negative und destruktive, dass wir in uns selbst nicht sehen und nicht wahrhaben wollen, auf andere Menschen und auch Menschengruppen projizieren und die dann hassen und zerstören wollen.

Atheist: Und auch wirklich zerstören.

Theist: Genau. Die serbisch orthodoxen Christen sagen, wenn sie das Brot für die jährliche Familienfeier in der Kirche brechen und mit Wein begießen, welche zusammen den Leib und das Blut Christ symbolisieren “Christus ist zwischen uns” und danach “Ja und er wird es bleiben” und wiederholen dies drei mal. Dann küssen sie das mit Wein getränkte und in der Kirche gesegnete Brot, welches sie mit nach Hause nehmen und 3 Tage lang mit ihren Nächsten essen, bis zum letzten Krümel. Im Volk sagt man, kein Krümel darf verloren gehen. Dieser Brauch zeigt exzellent, worauf ich hinaus will - zwischen uns Menschen ist Liebe nur mit Christus in der Mitte möglich, in Anerkennung seines Opfers, in der Möglichkeit, ihm auch das Negative und das Destruktive zu geben. Auch bei kirchlichen Hochzeiten in der serbisch orthodoxen Kirche wird gesagt, dass die Ehe ein Bündnis von 3 Personen ist, dem Ehepaar und Jesus Christus in der Mitte. Das Abendmahl erfüllt natürlich dieses Bedürfnis auch, dafür ist es in der Kirche da, aber diese serbische Familienfeier weitet es nochmal aus und bringt es auch mitten in das wichtigste Familienfest des Jahres.

Philosoph: Ein beängstigendes Verständnis der Liebe ist das. Und gleichzeitig füllt es so viele Lücken.

Theist: Mit Jesus Christus können wir uns und andere wirklich lieben, ohne Ihn, ohne sein immer wiederkehrendes Opfer, an dem wir unsere Blutrunst stillen können, ist Liebe sehr, sehr schwer. Auch Nietzsche erkannte das, als er den alten Greis im Wald zu Zarathustra sagen ließ: “Liebe zu den Menschen würde mich umbringen”. Schade, dass er nur den Tod Gottes verstand und aufnahm. Schade, dass ihm sein bewusstes Opfer und seine Auferstehung entgangen sind.

Philosoph: Nietzsche war eben kein Philosoph, sondern ein barbarischer Denker. Auch Barbaren denken. Und auch von ihren Gedanken kann man viel lernen, sie graben oft in der Tiefe. Ein Philosoph ist jedoch nicht nur ehrlich, sondern hat auch Edelmut.