Die vergessene Königin
Wenn ich auf unsere Zeit heute blicke und wohin wir uns alle als Menschen bewegen und wenn ich in Deutschland wandere, bemerke ich, dass die Kirchen immer leerer werden und die Orgel, einmal die Königin der Instrumente, in Vergessenheit gerät. Ich bin als orthodoxer Christ in Serbien aufgewachsen und seit ich in Deutschland lebe und später viele andere Länder des sogenannten globalen Westens besucht habe, wundere ich mich immer wieder über die Kirchenorgel, dieses Instrument, das in orthodoxen Kirchen nicht existiert.
In der orthodoxen Welt singen Chöre, und Instrumente sind verboten. Der Klang der Stille und wunderschöner Stimmen erfüllt seit Jahrtausenden die orthodoxen Kirchen, und in allen orthodoxen Klöstern singen die Mönche nachts in ihren Kirchen, während die meisten anderen Menschen schlafen. Wie alle orthodoxen Christen und Freunde der orthodoxen Kirche wissen: Solange diese Welt besteht, werden Mönche in den Klöstern nachts singen und beten und ihre Kirchen mit betörenden, tiefgeistlichen Klängen erfüllen.
In Deutschland entdecke ich nicht wenige Menschen, die aus verschiedenen Gründen, in ihren Gemeinden ihre Orgeln pflegen, restaurieren, auch neue bauen lassen. Diesen Menschen in den Gemeinden sowie den wenigen Orgelbauern aus unserer heutigen Zeit und den Organistinnen und Organisten widme ich diesen Text, schreibe ihn aber nicht für sie, sondern für alle anderen, welche weder die Orgel noch die Orgelmusik näher kennen und verstehen.
Es gab eine Zeit, da war die Orgel das gewaltigste Ding, das Menschen je gebaut hatten. Kein Schiff, kein Dom, keine Kanone kam ihr an Komplexität und an schieren Ausmaßen gleich. Tausende Pfeifen, Dutzende Register, mehrere Manuale, ein Pedal, das die Füße zum Tanzen zwang, und alles mechanisch, durch Luft in Bewegung gesetzt. Wenn sie ansprach, bebte der Boden. Wenn sie schwieg, war die Stille danach größer als vorher.
In dieser Zeit, die eine Zeit ohne Lautsprecher, ohne Schallplatte, ohne Kopfhörer, ohne Telefon, ohne Video, ohne Internet und weiteres mehr war, in dieser Zeit war die Orgel das einzige Instrument, das einen Raum wirklich ausfüllen konnte, ja überfüllen konnte. Sie war das erste Surround-System der Menschheit, und sie stand fast immer in einer Kirche und war wunderschön gestaltet, verziert und oft vergoldet. Das war kein Zufall. Sie war gebaut worden, um etwas hörbar und sichtbar zu machen, das größer ist als der Mensch.
Der größte Diener dieser Königin war ein Thüringer mit Perücke, der fast sein ganzes Leben lang Organist blieb.
Johann Sebastian Bach hat nie ein Opernhaus regiert, nie vor Königen gekatzbuckelt, nie eine Sinfonie für den Konzertsaal geschrieben. Er prüfte Orgeln, spielte Orgeln, schrieb für Orgeln. Ein Viertel seines gesamten Werks ist Orgelmusik. Er improvisierte stundenlang, bis die Gemeinde erschöpft war und die Kerzen heruntergebrannt. Er ließ die Füße über das Pedal fliegen, als wären es Finger, und die Zuhörer berichteten, es habe geklungen, als spiele ein ganzes Orchester.
Dann starb er 1750, fast blind, und wurde still begraben. Siebzig Jahre lang wusste kaum jemand, was da eigentlich verloren gegangen war. Erst Mendelssohn grub ihn wieder aus, und Europa erschrak: Wie hatten wir das überhören können Heute ist es noch seltsamer. Wir können jede Note Bachs in Sekundenbruchteilen aus dem Internet ziehen, in Dolby Atmos, aus winzigen Lautsprechern, die in die Hosentasche passen. Und genau deshalb hören wir sie fast nie mehr richtig.
Denn Orgelmusik lässt sich nicht streamen.
Man kann sie aufnehmen, ja. Aber man kann sie nicht erleben.
Man muss mit ihr im Raum sitzen, am besten in einer der alten Bankreihen, die Orgel im Rücken (denn sie steht ja meist oben auf der Empore), die Augen zumachen und einfach nur zuhören. Dann geschieht etwas Seltsames: der Klang kommt nicht von vorne wie bei einem Orchester, sondern von überall und von nirgendwo. Er umfängt einen, dringt durch den Körper, lässt die Rippen und Schädelknochen mitschwingen. Man spürt die tiefen Register im Magen, die hohen Mixturen wie Lichtstrahlen im Hinterkopf. Und plötzlich ist man nicht mehr Zuhörer, sondern Teil des Instruments selbst.
Viele haben für die Orgel geschrieben, vor Bach und nach ihm: Frescobaldi, Buxtehude, Pachelbel, Böhm, Walther, Bruhns, Lübeck, Franck, Reger, Messiaen … gute, große, manchmal geniale Musik.
Aber Bach's Werk gleicht der größten musikalischen Wende in der Musikgeschichte.
Wir teilen die Musikgeschichte nicht in vor und nach Beethoven oder vor und nach Mozart. Wir teilen sie in vor und nach Bach.
So wie wir die Menschheitsgeschichte in vor und nach Jesus Christus teilen.
Das ist keine Übertreibung; das ist schlicht die Wahrheit, die sich jedem erschließt, der einmal eine Stunde lang mit geschlossenen Augen unter einer richtig gespielten Bach-Fuge gesessen hat.
Dann versteht man: Dies ist keine Unterhaltungsmusik.
Dies ist Forschung mit Tönen.
Dies ist Gebet in Mathematik.
Dies ist Philosophie in Klang.
Dies ist der Versuch eines einzelnen Menschen, das Unsagbare sagbar zu machen, das Unendliche in endliche Zeit zu fassen, das Göttliche zu berühren. Und das Schönste: zum Zuhören braucht man keine Vorkenntnisse.
Man braucht nur da zu sein, die Augen zuzumachen und sich fallen zu lassen in diesen Klang, der älter ist als das elektrische Licht und doch alles viel mehr zum Leuchten bringen kann.
Verstehen Sie mich? Ich wünsche mir keine Rückkehr ins 18. Jahrhundert. Nein, ich wünsche mir lediglich die Fortsetzung des Staunens.
Dass mehr von uns Menschen abends in die Kirchen gehen, uns in eine Bank setzen, die Augen zumachen und zulassen, dass ein einziger Mensch an einer einzigen alten Maschine aus Holz, Zinn und Luft uns zeigt, wie ein Herzschlag klingt, wie tief Gedanken sein können, wie unendlich eine Sekunde zwischen zwei Akkorden schweigen kann.
Denn wenn wir heute etwas brauchen, dann nicht noch mehr Bildschirme, sondern wieder ein Instrument, das größer ist als wir selbst. Dafür brauchen wir aber Menschen, die sich der Orgel wieder widmen und uns inspirieren uns zu beteiligen.
Wie Bach es tat.
Jeden Sonntag.
Sein Leben lang.
Die Orgeln warten. Die Pfeifen stehen, die Luft ist noch da.
Mehr Konzerte sollen stattfinden.
Mehr Menschen wollen sie besuchen.
Die Augen zumachen.
Die Seelen öffnen und staunen.
