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Europa oder die Union?


Von den grünen Klippen Irlands bis zum Ural in Russland, von der Mitternachtssonne bis zum warmen Stein Kretas trägt dieser Kontinent seit dreitausend Jahren denselben Namen: Europa. Sie war eine phönizische Königstochter; Zeus verwandelte sich in einen weißen Stier, gewann ihr Vertrauen durch vorgetäuschte Sanftheit, entführte gewaltsam sie übers Meer, und sie gebar ihm drei Söhne – so erzählt der alte griechische Mythos. Vielleicht sagt er uns bereits alles: Europa war nie ein Ort der Reinheit, sondern immer ein Raum der Begegnung, der Vermischung, der Täuschung, der Gewalt und zugleich der Versöhnung, der Liebe und des Schöpfens.

Heute sagen wir oft „Europa“ und meinen die Europäische Union. Das ist nicht gut.

Die Union bleibt das größte Friedenswerk, das dieser Kontinent je hervorgebracht hat. Aus der Asche von 1945 und der Angst vor neuem Grauen geboren, setzte sie sechs ehemalige Todfeinde an einen Tisch und schmiedete daraus eine Gemeinschaft, die heute 27 Länder umfasst, die sich auf 41 Prozent der Fläche des Europäischen Kontinents erstrecken. Wer das leugnet, leugnet die schlichte Tatsache, dass seit 79 Jahren kein Soldat eines dieser 27 Länder gegen einen anderen marschiert ist. Gemessen an Europas blutgetränkter Geschichte ist das kaum weniger als ein Wunder.

Und dennoch: immer wenn das Wort „Europa“ in diesem engeren Sinne fällt, verschwinden leise 59 Prozent des Kontinents – Russland mit seinen 110 Millionen Bürgern westlich des Urals, Norwegen, die Schweiz, das Vereinigte Königreich, Serbien, Bosnien, Nordmazedonien, die Ukraine und andere; Menschen, die denselben Boden betreten, dieselbe Geschichte atmen, dieselben Lieder in anderen Sprachen singen und plötzlich außerhalb des Zauberkreises stehen. Ihnen scheint es nicht erlaubt zu sein, Europäer zu sein.

Warum eigentlich?

Vielleicht aus Stolz auf das Erreichte.

Vielleicht aus einer leisen Angst, das Kostbare könnte zerbrechen, wenn man den Namen zu freigiebig verteilt – und Angst ist menschlich.

Vielleicht aus bloßer sprachlicher Gewohnheit, übernommen aus Jahrhunderten, in denen der Westen die Feder führte und der Osten stillschweigend als „anders“ galt.

Und vielleicht schwingt noch ein Echo jener alten Hierarchie mit, die Slawen, Russen und Balkanvölker lange als „nicht ganz europäisch“ ansah – eine Haltung, die im Zweiten Weltkrieg in der Lehre von der slawischen „Untermenschlichkeit“ und der Eroberung des "Lebensraums im Osten" gipfelte und 35 Millionen Slawen das Leben kostete. Die meisten von uns in der Union glauben, solche Gedanken überwunden zu haben; doch in manchen Reflexen scheinen sie noch nachzuklingen.

Ich weiß es nicht.

Ich weiß nur: Niemand muss klein gemacht werden, damit ein anderer sich größer fühlt.

Die Russen sind Europäer.

Die Serben sind Europäer.

Die Briten (so sehr manche von ihnen sich auch als Inselvolk sträuben) sind es geblieben.

Die Norweger sind Europäer, und alle anderen, die diesen Kontinent bewohnen, ebenfalls.

Die Bürger der Union sind es selbstverständlich auch – nur mit einem zusätzlichen, frei gewählten Band, das sie verbindet. Wir sollten uns jedoch der Unterscheidung bewusst bleiben zwischen einem Projekt, das wir mit Recht „eine Union in Europa“ nennen dürfen, und der Vorstellung, die Union sei Europa.

Es wäre, glaube ich, ein Zeichen von Reife, öfter „die Union“ zu sagen, wenn wir die Union meinen, und „Europa“ nur dann, wenn wir wirklich alle Menschen auf dem Europäischen Kontinent meinen.

Das nähme niemandem etwas. Es schenkte allen etwas: die stille Gewissheit, dass dieser alte, geflickte Kontinent noch Platz hat für jede Seele, die auf ihm lebt.

Ich schreibe dies nicht, um zu tadeln, sondern aus Liebe zu diesem Europa – dem ganzen, unfertigen, widersprüchlichen Europa, dessen grauenhaft blutige Vergangenheit ich nur zu gut kenne und dessen Fähigkeit zu neuem Blutvergießen noch bei weitem nicht erloschen ist.

Wenn wir den Titel „Europäer“ nur den Menschen innerhalb der Union zugestehen, schließen wir alle anderen auf dem Kontinent automatisch aus. Was sind sie dann? Künftige Marsianer vielleicht, die sich Elon Musk wünscht und die zunehmend mehr Menschen werden wollen, die lieber fliehen als sich zu konfrontieren und die immer noch nicht gelernt haben, dass Flucht nicht hilft.

Besonders schmerzlich finde ich, dass die 110 Millionen Russen auf europäischem Boden – Moskau, Sankt Petersburg und unzählige andere unverkennbar europäische Städte – sich entweder nicht als Europäer fühlen oder dazu nicht ermutigt werden. Russland ist freilich größer als Europa; einst erstreckte sich die russische Zivilisation über drei Kontinente, bevor Alaska an die Vereinigten Staaten verkauft wurde. Die 1000 jährige russische Geschichte basiert auf eigenständigen Entdeckungen nicht nur anderer Kontinente, sondern auch des Weltalls. Die Russen, deren Staatsgebiet 40 Prozent des europäischen Kontinents ausmacht, sollten zumindest in zweiter Instanz europäisch heißen dürfen und sich auch selbst so identifizieren wollen, so wie es viele Bürger der Unionsstaaten und Bürger anderer Europäischen Staaten tun. Kaum jemand in der Union sieht „Europäer“ als seine primäre Identität; wer es dennoch tut, leidet womöglich noch am alten Narzissmus und Eurozentrismus – eine Haltung, die gerade dann gefährlich wird, wenn sie sich als friedfertig und schön tarnt, wie dies einmal Zeus als weißer Stier tat.

Ist die Wahrheit nicht schöner und erträglicher als Überhöhung, Narzissmus, neue Spaltungen und alles, was daraus folgen mag?

Die Wahrheit lautet: Jeder, der auf dem europäischen Kontinent lebt, ist Europäer, und jede hier verwurzelte Kultur ist europäisch. Die Menschheit, so scheint mir, ist heute reif genug, dies anzuerkennen. Eines Tages – dessen bin ich gewiss – werden alle Europäer und alle Menschen auf diesem blauen Planeten, der sich unaufhörlich um sich selbst und um seine Sonne dreht, sich einfach Menschen nennen und in Köpfen aller anderen Menschen dies auch sein dürfen. Es wird dies noch Zeit in Anspruch nehmen. Rom wurde nicht an einem Tag erbaut, und Rom fiel auch nicht an einem Tag. Vielleicht fiel Rom gerade deshalb, weil die Römer nicht früh genug lernten inklusiv zu sein.

Ach, all diese Menschen, die dieses Spiel der Inklusion und Exklusion spielen, sie sind so banal und langweilig...

Gott sei Dank hat uns Serben der heilige Sava gelehrt, Menschenliebende zu sein, Bischof Nikolaj, dass wir uns nicht als zwischen Ost und West verstehen sollen, sondern über beiden, und Patriarch Pavle wie so viele vor ihm, dass wir vor allem Menschen sein sollen. Dank ihnen kann ich heute zugleich Serbe und Deutscher und Europäer und vor allem Mensch sein, im vollen Bewusstsein dessen, welches Böse und welche Fähigkeit zum Blutvergießen in jedem von uns wohnt. Denn was ist der Mensch, wenn nicht das schlimmste Monster, das je auf diesem Planeten gelebt hat, und zugleich ein Monster mit Herz, sogar mit dem größten Herzen, das je eine Kreatur besaß?