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Zucker für die Seele.


Während Sie guten Merlot trinken und ein noch besseres Gespräch genießen, sagt plötzlich einer der 4 Freunde…


Atheist: Ein Dessert schmeckt köstlich, nährt die Seele, aber sowohl die Zeit, in der wir ein Dessert zu uns nehmen, als auch die Zeit danach, in der wir dieses in Gedanken genießen, vergehen schnell. Der Effekt dauert nur eine kurze Zeit. 

Forscher: Das ist der Zucker im Dessert, dieser ist die Essenz der Energie. Er schmeckt süß, man will immer mehr, aber der Effekt hält nur kurz.

Theist: Es ist so auch mit den heutigen kurzen Videos im Internet, diese sind wie Schokolade und Süßigkeiten, wie Zucker für die Seele.

Atheist: Das ist sehr gut gesagt, man will mehr und mehr von ihnen schauen, aber befriedigt fühlt man sich nicht. Weder danach noch während man sie anschaut. Auch mit Texten ist es so, viele sind bei Twitter, wir zwingen uns gegenseitig möglichst kurz zu sprechen, nur das wenige und wesentliche zu sagen, denn wir sind schon programmiert darauf mehr nicht aufnehmen zu können. Kurz, kurz, kurz, dabei aber möglichst stark und geschmackvoll.  

Forscher: Ob sich wohl eine Parallele zum Körper ziehen lässt, d. h. wir wissen, dass dem Körper übermäßiger Zuckerkonsum schadet, auch dem Gehirn schadet dieser.

Philosoph: In der Tat, ich habe diese Parallele schon vor geraumer Zeit gezogen und für mich in Selbstgenügsamkeit geforscht und das Ergebnis erhalten, dass diese sog. "Shorts" einerseits unseren Seelen noch mehr schaden, als der Zucker unseren Körpern. Andererseits reparieren gute “Shorts”, also solche, die gefüllt sind mit Weisheit und Ratschlägen, manche schwachen und verletzten Strukturen in unserem Bewusstsein und auch in unserem Unbewussten. Sie sind ein zweischneidiges Schwert.

Theist: Dies ist wohl auch der Grund für das süchtige Verhalten vieler Menschen heute, in Verbindung mit diesen kurzen Videos. Sie tun in anderen Worten der Seele gleichzeitig gut und fügen ihr Schaden hinzu. Die Parallele zum Dessert und zum Zucker passt vielleicht sehr gut, ist ein Dessert schließlich auch nahrhaft, d. h. man wird auch ein wenig satt davon. 

Forscher: Was genau schadet aber bei den Videos? Zucker ist eine neurotoxische Substanz, also giftig für unser Gehirn und zu viel Zucker erhöht das Risiko von Demenz, Alzheimer und Schlaganfällen - drei der zehn häufigsten Todesursachen weltweit. Gleichzeitig werden manche Zuckerarten, wie z. B. Fructose, in der Leber teilweise zu Fett umgebaut und können neben Diabetes und Herz-Kreislauferkrankungen auch Gicht fördern. Zu viel Zucker ist also im wahrsten Sinne des Wortes Gift für den Körper und das Gehirn, aber dennoch auch nötig für beide in kleineren Mengen. Wie können wir dazu eine Parallele zu Videos und der Seele ziehen?

Philosophie: Nun, wie der Körper Nahrung braucht, braucht auch die Seele Nahrung und Seelennahrung besteht im Grunde genommen aus Informationen. In diesen “Shorts” werden einfach große Mengen an Informationen zusammengepresst, sowie große Mengen an Energie im Zucker zusammengepresst werden. Schauen wir zu viele Shorts, nimmt unsere Seele zum einen zu viele Informationen auf, während sie diese zum anderen zu schnell verarbeitet und dann erneut schnell hungrig wird. Es sind fokussierte geistige Kohlenhydrate. Das ist aber nicht das schlimmste was geschieht, das schlimmste ist, dass eine Gewohnheit entsteht, wie beim Konsum von Süßigkeiten. Man kann und will dann gar nicht mehr aufhören, die Shorts zu konsumieren, auch wenn man weiß, dass sie schädlich sind. 

Atheist: Und unsere Seele erkrankt an dem, was wir hoffen, dass sie erquicken und stillen kann. Wir konditionieren uns mit der Zeit, Informationen in gepresstem Miniformat aufzunehmen, was uns mehr schadet als nützt und werden dabei süchtig danach. 

Theist: Es ist wie eine sich selbst erfüllende Prophezeiung. Wie der Poet Reade schrieb, Gedanken werden Worte, Worte werden wiederum zu Taten und schließlich werden die oft wiederholten Taten zu Gewohnheiten, die man nicht mehr los wird. 

Forscher: Reade schrieb noch, dass Gewohnheiten unseren Charakter bilden und dieser unser Schicksal. 

Atheist: Damit bin ich einverstanden, denn es zeigt die Freiheit ganz bei uns, wir haben unser Schicksal in der Hand, wenn wir auf unsere Gedanken achten, unsere Worte und Taten. Wir können auch schlechte Gewohnheiten mit Übung loswerden.

Theist: Wir sind frei, da gebe ich dir Recht und was Reade schön zeigt ist, dass nicht alles, was wir tun können, uns auch Vorteile bringt. Aber die Gewohnheiten, die schon tief in uns verankert sind, die können wir nicht mehr so einfach loswerden, da dauert Entwöhnung manchmal Jahre, sogar ein Jahrzehnt. Deshalb hat auch Reade Recht, sie werden zum Charakter und dieser zu unserem Schicksal, denn es gibt bei einigen gar keine Entwöhnung mehr. Und wenn man bedenkt, dass alles mit Gedanken und Worten beginnt, dann denkt man vielleicht anders über die Religion, die vielen Rituale, die geschaffen sind, um auch die schlimmsten Charaktere wieder in ein seelisches Lot zu bringen. 

Forscher: Zurück zu der Frage nach den 30 Sekunden Texten und Videos, die ja schon vor dem Dessert gestellt wurden. Es scheint mir, in Analogie zum Zucker und zu den Shorts, glaubt unser Philosoph, dass wir eher keine Texte lesen und Videos schauen wollen, die ca. 30 Sekunden, plus-minus, dauern?

Philosoph: Na, ihr kennt mich schon zu gut. Wir wollen ja eine gesunde Seele, deshalb sollten wir uns auch etwas Zeit nehmen beim Lesen. Es müssen dies nicht gleich Stunden sein, aber wie der Körper essen muss, so muss auch die Seele essen und es ist gut, man nimmt sich mit Mahlzeiten etwas Zeit. Man will auch Körper Nahrung nicht zu schnell essen. Ich meine, man sagt heute lieber “Psyche”, aber wir wissen, “Psyche” ist einfach der altgriechische Begriff für die Seele. Und die Sache mit unserer Seele ist, wir vergessen alles, was wir lesen, ob kurz oder länger, denn mit dem Lesen ernähren wir nicht unser Bewusstsein, sondern vor allem unser Unbewusstes. Und so wie der Körper wieder hungrig wird, so wird auch die Seele wieder hungrig. Ab und zu kann man sich natürlich was süßes gönnen, für die Seele und für den Körper.

Forscher: Sehr viel vergessen wir tatsächlich bzw. ich kann mich an praktisch kaum ein kurzes Video einfach so erinnern oder an die kurzen Texte aus Twitter usw. und wie viele Tausende, ja zehntausende bzw. hunderttausende habe ich schon gelesen und gesehen. Die sind aber nicht weg, genau, die gehen ins Unbewusste und wenn mal einer wieder kommt, den ich schon mal gesehen habe, erinnere ich mich. Manchmal erinnere ich mich aber auch nicht.

Atheist: Das ist auch meine Erfahrung, die Analogie zur Ernährung ist wirklich interessant. Es ist tatsächlich so, als würden wir unsere Seele mit Informationen ernähren, aber eben auch mit Gefühlen, mit Liebe unserer Mitmenschen, wobei ja, das ist im Endeffekt auch eine Art von Information. Es macht einen Sinn weniger längere Mahlzeiten zu genießen, anstatt viele kurze, aber es macht einen Sinn ab und zu auch kurze Mahlzeiten einzunehmen.  

Theist: Gott segne Euch, das alles wissen wir Christen schon sehr lange. Dafür sind auch Gebete unter anderem da, die können lang und auch sehr kurz sein. Wir wissen aber auch, nichts anderes kann die Seele in den tiefsten Tiefen sättigen und zur Ruhe bringen, als die Liebe Gottes. 

Philosoph: Da stimme ich zu. Die Liebe Gottes verdient eine ganze Reihe von Gesprächen. Nun, wir werden uns sicher bald wieder mit ihr und anderen Themen beschäftigen.

Atheist: Ich bin neugierig, obwohl ich denke, dass diese Liebe nur eine Erfindung von uns selbst ist. Aber es ist interessant zu erforschen, ob wir uns wirklich durch sie ernähren können oder ob es eine Art spiritueller Selbstkannibalismus ist. Außerdem machen kurze Videos und Texte Spaß, und ja, wir werden immer mehr darauf programmiert, nur eine kurze Aufmerksamkeitsspanne zu haben. Ob wir wollen oder nicht, unsere Zukunft wird wahrscheinlich verlangen, dass alles kürzer und kürzer wird.

Philosoph: Das wird nicht meine Zukunft sein – du kannst deine so gestalten, wie du willst. Und andere nach ihrem Ermessen. Jedem das Seine. Ich denke, was uns zu Menschen macht und nicht zu Schweinen, ist die Tatsache, dass wir, mit mehr oder weniger Mühe, unsere Gewohnheiten gestalten können. Und ich sage dir, ich liebe lange und gute Mahlzeiten – für die Seele und den Körper – und achte besonders darauf, spirituellen Selbstkannibalismus zu vermeiden, den ich als eines der ersten Anzeichen einer kranken Seele sehe. Ich habe es bei Nietzsche zum ersten Mal bemerkt, und schon damals, als Student, habe ich verstanden, dass etwas nicht stimmt. Aber die Liebe Gottes ist keine Autosarkophagie, und Gebete sind es auch nicht.

Forscher: Spiritueller Selbstkannibalismus oder Autosarkophagie der Seele. Faszinierend. In dem Sinne, dass unsere Gehirne ihre eigene Nahrung produzieren und konsumieren? Ich glaube, ich weiß, was du bei Nietzsche meinst, der sehr lange Texte schrieb und eine große Anzahl von Aphorismen produzierte, mit anderen Worten, große Mengen an Inhalten seiner Seele projizierte. Ich erinnere mich, dass er schrieb, wie sehr er es genoss, seine eigenen Texte und Aphorismen zu lesen, und erklärte, dass ihm die anderer kaum „schmeckten“ – Montaigne lobte er, ansonsten hatte er für fast niemanden ein gutes Wort übrig. Er benutzte wahrscheinlich andere Worte als „schmecken“, ich paraphrasiere jetzt aus der Erinnerung und im Kontext unseres Gesprächs, aber wir wissen alle, dass Nietzsche verrückt wurde. Ich stimme also der Idee zu, dass er vielleicht spirituellen Selbstkannibalismus betrieb und sich sozusagen wie ein Ouroboros selbst verschlang. Man könnte natürlich sagen, dass Gebete spiritueller Selbstkannibalismus sind, da man ein Gebet spricht und konsumiert, aber deshalb denke ich, dass es wichtig ist, klarer zu unterscheiden, worüber wir hier sprechen. Ich sehe organisierte Religion auf jeden Fall als mehr als nur Gebete, denn sie hat auch ihre Weltsicht, ihre Rituale und Zeremonien, ihre Gemeinschaften. Aber selbst das Gebet allein ist etwas anderes als das, was Nietzsche tat – man ergötzt sich nicht an sich selbst, sondern betet zu einer höheren Macht, Gott, also gibt es eine Beziehung zu etwas außerhalb des Menschen. Wenn man jedoch sagt, dass Gott ein Produkt der menschlichen Fantasie ist und in uns selbst existiert, dann könnte man natürlich sagen, dass die Erschaffung der Idee von Gott oder die Projektion Gottes durch eine leidende Seele und das anschließende Beten zu diesem Gott eine Form von Autosarkophagie ist. Doch wir wissen aus der Physik, dass es andere Dimensionen der Realität gibt, die wir nicht bewusst wahrnehmen können, und es gibt Spekulationen, dass unsere Gehirne vielleicht die Fähigkeit haben, in diese Dimensionen einzudringen. Es ist also ebenso möglich, dass einige Gehirne Gott nicht erschaffen, sondern im Geist in eine Sphäre der Realität vordringen, in der sie Gott entdecken oder etwas sehen, das so anders ist als der Alltag, dass sie es so interpretieren. In diesem Fall richten sich Gebete nicht an diese Sphäre der Realität, sondern werden verwendet, um diesen Durchbruch der Seele, dieses neuronale Netzwerk, das mit einer anderen Sphäre dieser Realität verbunden ist, funktionsfähig zu halten. In diesem Kontext ist es möglich, dass Gebete uns erden, indem sie bestimmte Postulate festigen, an die wir beschließen, als Wahrheiten zu glauben. Ebenso ist es möglich, dass Gebete in der chaotischen Funktionsweise des Gehirns, insbesondere wenn man Traumata und andere seelische Krankheiten berücksichtigt, eine erdende und festigende Wirkung haben. Tatsächlich haben alle Weltreligionen Gebete entwickelt, viele davon unabhängig voneinander – diese Tatsache allein ist interessant. Aber jetzt habe ich schon zu lange gesprochen…

Theist: Religion ist viel mehr, danke. Und du hast nicht zu lange gesprochen, aber ich denke, wir haben für heute genug über schwere Themen geredet. Vielleicht wollen wir jetzt etwas Zeit mit leichten Gesprächen unter Freunden verbringen. Das tut der Seele auch gut.

Mit Kopfnicken stoßen die Freunde noch einmal herzhaft an, lachen und genießen den Rest des Abends in humorvoller Gemeinschaft.